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Zweiter Georgischer Rundbrief von Pablo Schmelzer vom 12.3.2010

am . Veröffentlicht in Allgemeine Infos

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Mitte März erreichte uns ein zweiter Bericht aus Georgien. Aus Georgien? Spielt da jemand Tischtennis?? So könnte man fragen. Die Antwort ist "Nein". Aber da hält sich gerade ein TTC-ler auf. Und wieso ein ZWEITER Bericht? Richtig, ein ZWEITER Bericht: Denn Ende letzten Jahres schrieb Pablo Schmelzer schon einmal einen Georgischen Rundbrief, den wir hier auf der TT-Site veröffentlichten. Pablo, ein junger, bis letzten Sommer Aktiver bei uns im TTC, machte sich im Herbst auf nach Georgien, um einige Zeit in einem Behindertenheim in Georgien unterstützend tätig zu sein. Auch diesen zweiten, sehr interessanten, ein wenig von trüber Winterstimmung gefärbten Erlebnisbericht möchten wir wieder gerne auf unserer Homepage veröffentlichen. Für Juni hat er schon einen weiteren Rundbrief angekündigt.

Ein Klick auf "Weiterlesen..." führt alle Interessierten am Geschehen jenseits des Tischtennis zum Bericht unseres Georgien-Korrespondenten Pablo Schmelzer in Temi, Georgien.

(Kurt)

Rundbrief2_GelaendeTemi_klein(Temi, 12.3.2010) Der gestrige Morgen, sonnendurchtränkt, mit warmem Föhn aus dem Kaukasus, zeitigte nach einem nicht sehr kalten, aber nassen und grauen Winter den Frühlingsanfang. Tag und Nacht hatten, in stillem Einvernehmen, Kräfte zu sparen, den sie trennenden Kontrast von Licht und Dunkelheit zu einer vagen, von dicken Nebelschwaden verdeckten Grenze verkommen lassen. Der Morgen brachte dann nur die Ahnung eines neuen Tages, der wieder dunkel, nass und trüb werden würde. Ein Winter ohne Extreme, ohne Schneestürme, ohne diesen klaren blauen Himmel, der gewöhnlich klirrende Kälte mit sich bringt. Ein Winter, der nun drei Monate nach meinem letzten Rundbrief sein stilles Ende gefunden hat.

Rundbrief2_EinJaeger_kleinDie Zeit vor Weihnachten war für mich die schwierigste in den bisher sechs Monaten hier in Georgien. Es bedrückte mich sehr, mich noch nicht mit den Menschen unterhalten zu können, nicht das auszudrücken, was ich denke und fühle. Erst jetzt im Ausland wird mir bewusst, welch ein Segen es ist, eine Muttersprache zu haben. Eine Sprache, in der man sich frei bewegen kann und in der man sich zu Hause fühlt. Nur Bedürfnisse wie „me mschia“ (ich bin hungrig) zu artikulieren macht zwar satt, nicht aber glücklich. Die Zahl meiner Klavierschüler reduzierte sich bis zu den Weihnachtsferien von zwölf auf zwei. Das alte Klavier verlor fast täglich eine Taste, um die es in Anbetracht ihres Klanges eigentlich schon gar nicht mehr schade war. Die Noten, die mir meine Eltern zuschicken wollten, befanden sich noch auf dem Postweg und die Schüler waren in Gedanken schon in der Hauptstadt Tbilisi, wo sie ihre Weihnachtsferien verbringen würden.

Weihnachten wird in Georgien am 7. Januar gefeiert. Die Weihnachtsferien beginnen dann am 25. Dezember. Um das Fest gleich doppelt feiern zu können haben wir Freiwilligen auch schon am Vierundzwanzigsten in kleiner Runde, mit Nudeln und Thunfisch-Soße, Weihnachtsliedern, selbstgebackenen Keksen, französischem Gouda aus einem Import-Laden der Hauptstadt Tbilisi und einigen kleinen Geschenken des Christkindes gedacht. Das Zimmer hatten wir vorher mit Tannenzweigen geschmückt, ein Adventskranz ersetzte uns den Weihnachtsbaum und im Kerzenschein war dann mein erstes Weihnachten weit weg von meiner Familie eigentlich sehr schön zu ertragen. Am nächsten Tag wartete auf uns eine Überraschung. Die Schulkinder hatten sich in zwei Gruppen eingeteilt, deren jede es sich zur Aufgabe gemacht hatte, einen ganzen Tisch voll Köstlichkeiten zuzubereiten, uns davor zu setzen und nachdem wir uns, von den Kindern mit gespannten Blicken verfolgt, die Bäuche vollgeschlagen hatten, die unmögliche Aufgabe zu stellen, den Gewinnertisch zu benennen.

Es war wirklich außerordentlich lecker. Wir entschieden uns für die sehr diplomatische Lösung, den einen Tisch für den Geschmack und den anderen Tisch für seine Dekoration auszuzeichnen.

Den Advent hindurch haben wir Freiwilligen zusammen mit Behinderten und Schulkindern Plätzchen gebacken, die dann noch am selben Tag zum Abendbrot verteilt wurden. An den langen Abenden haben wir Freiwilligen zusammen Lieder aus dem Weihnachtsoratorium gesungen, einige beim Backen konfiszierte Kekse verzehrt und aus der Bibel gelesen. Alles in allem eine für deutsche Verhältnisse sehr besinnliche Weihnachtszeit.

Rundbrief2_3Betreuerinnen_kleinRundbrief2_Abendrunde_kleinWährend die Schulkinder mitsamt den Lehrern die Feiertage in Tbilisi verbrachten, wurde hier in Temi ein neues Gebäude, aus amerikanischer Entwicklungshilfe, nach fünfjähriger Bauzeit fertiggestellt. Es folgte ein leicht chaotischer Umzug, bei dem Betten, Schränke, Tische hin und her getragen wurden, da die Frage, wer welches Zimmer beziehen darf, sozusagen erst während des Umzugs ausgelotet wurde. Das Gebäude macht sich innen, mit einem langen, schmalen, an ein Krankenhaus erinnernden Flur, immer gleichen Zimmern links und rechts des Ganges, wie außen, als ein rechteckiger, grün angestrichener Klotz, recht hässlich auf dem Gelände von Temi. Nach nur zwei Wochen zeigte sich in den Bädern der erste Schimmel, der mittlerweile auch die Zimmer erreicht hat, die aufgeklebten Laminat-Böden lösen sich vom Untergrund, so dass der lange Flur einer Berg-und Talfahrt gleicht, und die Plastik-Türen lassen sich ohne Mühe nicht mehr öffnen. Es wurde augenscheinlich mit möglichst wenig Mitteln ein möglichst großes Haus gebaut, das zumindest bei der feierlichen Eröffnung mit Diplomaten, hohen Militärs und Politikern noch nach guter Entwicklungshilfe aussehen sollte. Es finden sich jetzt drei Klassenzimmer, einige Schlafzimmer für die Behinderten und Wohnräume für die männlichen Schulkinder im neuen Gebäude.

Das georgische Neujahr kündigte sich schon Wochen in Voraus durch kleine und größere Knalleffekte an. Kinder und Behinderte tauschten dann, nach Größe und Gewicht unterschiedliche Böller, die einem dann beim Essen, auf dem Hof, am Klavier um die Ohren flogen. Durchaus furchteinflößend erschien es, wenn ein Betreuter, ein brennendes Streichholz in den von Epilepsie zittrigen Händen haltend, im Begriffe war, den ebenfalls gezündeten Böller in unbestimmte Richtung zu schleudern. Gerade hatte man sich an laute Überraschungen gewöhnt, als Sylvester, das sich akustisch nur unmerklich von den vorigen
Wochen absetzte, schon vorbei war.

Weihnachten, diesmal das georgische, stand vor der Tür. Die „Bescherung“ kam kurz nach Silvester. Temi sind 27 000 Lari (umgerechnet 10 000 Euro - der Haushalt von zwei Monaten) gestohlen worden. Ein Dutzend Polizisten suchte den ganzen Abend und die halbe Nacht mit Scheinwerfern das Gelände ab und die Kinder entdeckten schnell die Freude am „Krieg spielen“ mit Holzgewehren. Es fehlte TEMI sogar das Geld für den wöchentlichen Großeinkauf, so dass die tägliche Suppe dünner und dünner wurde. Wir, die Freiwilligen, schrieben den Notfonds der Freunde der Erziehungskunst an, der für diese Zwecke aus Spendengeldern gespeist wird, welcher daraufhin die Hälfte des Verlustes als Direktspende TEMI zukommen ließ. Nach erneut drei Wochen, mittlerweile nach Weihnachten, kam dann das dicke Ende. Der Dieb war ein enger Mitarbeiter von TEMI. Ein Berufssoldat, der nach Einsätzen in Tschetschenien, Georgien, Irak und zuletzt Afghanistan vorhatte, mit der UN-Friedensmission in den Kongo zu fliegen. Der Leiter von TEMI hatte ihn von diesem Vorhaben abgebracht und so ist er, auch aufgrund von guten Kontakten nach Tbilisi, Mitarbeiter von TEMI geworden. Das georgische Fernsehen schlachtete das Drama in mehreren reißerischen Berichten aus und da nun jeder Georgier davon weiß, was es in TEMI zu holen gibt, verbirgt sich nun das künftige Haushaltsgeld hinter vier dicken Stahltüren in einem neuen Safe. Nach Meinung der Betreuten dürfe der Soldat wieder in TEMI wohnen, falls er sich entschuldigen würde. Nach dem Gesetz sitzt er vorerst mindestens fünf Jahre im
Gefängnis.

Weihnachten ist in Georgien recht unspektakulär. Ostern steht hier, wie auch in Russland, im Mittelpunkt der religiösen Feierlichkeiten. Es gibt keinen speziellen Gottesdienst, keine Geschenke und auch sonst keinen spezifischen Ritus für Weihnachten, so dass es einige Betreute gab, die erst am nächsten Tag mit Bestürzung erfuhren, Weihnachten verpasst zu haben.

Mit fast zwei Wochen Verspätung begann für die Schulkinder das zweite Halbjahr, das heißt, die Lehrer kamen aus Tbilisi zurück und der Unterricht konnte weitergehen. Die vier Wochen Ferien hatten ihr Bestes getan, die Schulkinder wieder für den Klavierunterricht zu begeistern. Das neue Klavier hatte einen Platz in einem der neuen Klassenzimmer gefunden. Die Akustik ist grausam, der Raum viel zu klein für ein Klavier und die Heizung scheppert beim eingestrichenen a, was jedoch im Vergleich zum Klang des alten Klaviers nicht ins Gewicht fällt. In den Weihnachtsferien habe ich die neuen Klaviernoten erhalten, so dass meine Schüler nun ihrem Können nach Angemessenes spielen. Um die Schüler dazu zu bringen, auch von sich aus zu üben und nicht nur zur Stunde zu kommen, gebe ich nun jedem Schüler zwei Stunden in der Woche Unterricht. Die Schüler machen nun wesentlich mehr Fortschritte, sie haben angefangen wirklich zu üben und nicht nur mal zwischendurch ihr Stückchen zu klimpern, so dass ich nach Ostern ein kleines Vorspiel mit ihnen machen werde. Obwohl ich drei Stunden am Tag gebe, macht mir der Unterricht richtig Freude, da ich merke, dass auch die Schüler vom Klavier begeistert sind, dass sie der Ehrgeiz packt – nicht der Ehrgeiz den anderen übertrumpfen zu wollen, aber der Ehrgeiz Klavier spielen zu können.

Rundbrief2_Garten_kleinIm Garten gibt es immer noch viel zu tun. Wir legen weiterhin Beete an, die jetzt mit Knoblauch, Zwiebeln, Möhren und verschiedenen Gewürzkräutern bepflanzt werden. Letzte Woche haben wir den Garten um seine bisherige Größe vergrößert, beziehungsweise den Zaun versetzt, so dass wieder Platz für neue Beete frei ist. Da sich die Behinderten strikt weigern, bei Kälte in den Garten zu gehen, haben wir uns überlegt, mit ihnen eine Abendrunde zu machen. Jeden Abend um neun Uhr beginnen wir mit ein paar Bewegungsübungen, danach spiele ich ein Stück auf dem Klavier und anschließend darf einer der Betreuten, so gut er es eben kann, aus der Kinderbibel lesen. Es ist sehr schwierig, die Betreuten davon zu überzeugen, zumindest eine Stunde am Tag nicht alle anderen überschreien zu müssen, sich nicht gegenseitig zu verprügeln und auch nicht alle paar Minuten aus dem Zimmer zu rennen, um gleich darauf wieder ohne Klopfen hereinzuplatzen. Für Ruhe sorgt nun ein kleiner Jonglier- Ball, bei dessen Besitz es einem erlaubt ist, so viel und so lang zu reden wie es einem beliebt. Wer den Ball nicht hat, schweigt. Am Anfang war der Ball bei den Betreuten eher gefürchtet als geliebt, weil er ihnen das seltene Gefühl gab im Mittelpunkt zu stehen, reden zu dürfen, keinen überschreien zu müssen um sich zu artikulieren, dieses Gefühl war neu und für viele unangenehm. Mittlerweile ist der Ball beliebt und die die ihn gerade nicht haben, hören mehr oder weniger andächtig zu, müssen aber gleichzeitig nicht das Gefühl von zu wenig Aufmerksamkeit haben, da sie den Ball auch noch bekommen werden. Die Kinder freuen sich schon den ganzen Tag auf den „gaakwetili“ (Unterricht) und neuerdings nimmt auch einer der Leiter von Temi daran teil.

Rundbrief2_Tbilisi_kleinAm letzten Samstag erlaubte sich die georgische Regierung einen schlechten Scherz. Anderthalb Jahre nach dem Krieg mit Russland erklärte der regierungsnahe Sender Imedi (Hoffnung) im Stile einer Nachrichtensendung, der Krieg sei erneut ausgebrochen, russische Panzer wie Kampfflugzeuge seien unterwegs nach Tbilisi, die Opposition habe geputscht und Saakaschwili sei womöglich schon tot. Die dazu gezeigten Bilder kamen aus Archiven des letzten Krieges und waren mit einem „live“ Logo in der linken oberen Ecke versehen. Nur am Anfang und am Ende der Sendung wurde in einem Satz erklärt, das Ganze sei nur ein Szenario, das zeigen solle, was passieren könnte, falls bei den wichtigen Kommunalwahlen im Mai die Opposition an die Macht käme. Die Folgen der „Nachrichtensendung“ waren Hamsterkäufe in Tbilisi, mehrere Herzinfarkte und die Evakuierung einiger Dörfer nahe Russland. Mit zwei anderen Freiwilligen war ich gerade in der Hauptstadt, als wir eine SMS von einem georgischen Bekannten bekamen, wir sollten schnellstmöglich in die deutsche Botschaft gehen. Vor dem Rathaus hatte sich schon eine Menschenmenge versammelt, das Handy- Netz war völlig überlastet und wir standen zuerst ratlos auf der Straße, bis wir uns entschieden, erstmal in einer uns bekannten Kneipe nach der Ursache des ganzen Trubels zu fragen. Dort wusste man schon Bescheid, wir tranken erst einmal ein Bier und nach einer Stunde war der Spuk vorbei. Jedoch war dieses Szenario keineswegs so abwegig wie die Radiosendung von Orson Welles 1938, bei der sich in Amerika große Panik entwickelte, weil ein Angriff Außerirdischer befürchtet wurde. Die Spannungen zwischen Georgien und Russland sind immer noch groß, groß wie die Angst der Bevölkerung vor einem neuen Krieg.

Ich hoffe, Sie haben einen Eindruck davon bekommen, was sich für mich und für TEMI im Winter getan hat. Ich freue mich sehr über Rückmeldungen und werde Anfang Juni meinen dritten Rundbrief schreiben.

Bis dahin alles Gute wünscht Ihnen

Pablo Schmelzer

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